Mittwoch, 30. August 2017

Tag 67: Die Sache mit der Vier

Nachdem ich am Vortag gerade mal 4 Stunden gegangen bin, steht heute ein langer Tag an: Zuerst soll es zur Jamtalhütte gehen, wo alle Silvretta-Runden-Begeher der Heidelbergerhütte bleiben werden, und dann noch weiter bis zur Bieler Höhe am Silvretta-Stausee.

Die heutige Etappe besteht also aus 4 Teilen: Aufstieg zum Kronenjoch (der kürzere Weg über das Zahnjoch wurde wegen Steinschlaggefahr aufgelassen und die Markierung auf beiden Seiten entfernt), Abstieg zur Jamtalhütte, Aufstieg zur Getschnerscharte, Abstieg zum Stausee, der bereits jenseits der Grenze in Vorarlberg liegt.

Der frühe Morgen ist sehr kalt, dafür aber mit blauem Himmel zur Feier des Tages garniert.
Hinter der Hütte im Schatten bedeckt dicker Raureif den Boden, aber da etwas weiter bereits die Sonne ins Tal scheint, gehe ich zwar in langer Hose, aber kurzärmelig bereits um 4 nach 7:30 Uhr los.

Wenn ich mal kurz stehen bleibe, schmerzen die Muskeln wie am Anfang der Tour. Mein Körper wird doch nicht über Nacht festgestellt haben, daß ich doch nicht mehr ganz der jüngste und keine 24 mehr bin (naja, am ehesten noch im Oktadezimalsystem ;-) ? - Naja, es ist wohl einfach die Kälte, die den Muskeln zusetzt, denn im Tagesverlauf ist von den Wehwehchen nichts mehr zu merken.

Der Spätsommer hat nun also mit großen Schritten, quasi über Nacht, Einzug gehalten und es ist wirklich frisch. Länger Stehenbleiben ist nicht, sonst beginne ich zu frieren, insbesondere weil auch innerhalb kürzester Zeit Wolken ins Tal ziehen und es mehr und mehr bedeckt wird. Nun, das ist nicht ganz so spätsommerlich (schön) und Petrus hält sich momentan einfach nicht an das Drehbuch der ZAMG-Bergwettergötter aus Innsbruck.

Über die Bachläufe sind hier einige Male Gerüstböden gelegt und auch wenn ich einer der ersten Starter am Morgen von der Hütte war, sehe ich auf diesen im Reif deutlich ein paar Fußabdrücke. Vor mir kann ich aber lange Zeit niemanden entdecken. Erst als der Pfad nach dem bisher gemütlichen Anstieg gen Süden, rechts mehr und mehr gen Westen abzweigt und es durch eine Art Mondlandschaft etwas steiler (aber immer noch sehr gut gehbar) bergauf geht, kann ich vor mir einen schwarzen Schatten dahinschweben sehen. Ui, das wird doch nicht etwas ... Nein, die Gestalt hat keine Sense über der Schulter. Ich bin also nicht dem Tod auf den Fersen, auch wenn der schwarze Schatten schon aus der Ferne einen skurrilen Eindruck macht.


Nach dem Passieren des Falschen Kronenjochs (mmh: Zähne, Kronen - noch dazu auch falsche, abbrechende Spitzen und Geröll - Assoziationen an die Zahnmedizin kommen unwillkürlich hoch) sind es nur noch wenige Meter über gefrorene Bäche (wahrscheinlich hatte es hier heute Nacht -4 Grad) bis zum Kronenjoch auf 2.974 Metern, wo ein wirklich kalter Wind über die Scharte pfeift und sich die Sache mit dem Sensenmann ohne Sense aufklärt: In einer Mulde etwas Wind-geschützt lagert ein Mädel im dunklen Anorak (sonst sind die ja meist knall-bunt), welches nach der Nord-Süd-Alpenüberquerung Oberstdorf-Meran (E5) nun noch etwas durch die Silvretta am Auslaufen ist, weil sie noch ein paar Tage Urlaub hat.

Ich packe Kälte-bedingt auch Anorak, Mütze und Handschuhe aus und verweile aber nicht (unnötig) länger, sondern mache mich gleich an den Abstieg. Die ersten 50 Höhenmeter sind für die Knie sehr unangenehm zu gehen: Der eisige Wind hat den feuchten Erdboden derart schock-gefrostet, daß sich der Weg wie Beton geht. Hier bin ich mal froh, als mehr Steine auf dem Weg liegen, aber natürlich auch mit Verlieren von Höhe der Wind etwas nachläßt und es nicht mehr ganz so eisig kalt ist.

Nach einer Weile kommen die ersten Wanderer aus der Gegenrichtung im Aufstieg entgegen. Mit einem Ehepaar aus Würzburg (Katja und Hans - im Glück ;-) komme ich länger ins Gespräch. Sie haben auch ein paar Hütten- und Wegetipps für mich, die ich allerdings auf dieser Tour vermutlich nicht werde berücksichtigen (können), da die Wiesbadener Hütte heute noch eine Stunde mehr Weg wäre, ich dann weiter zur Tübinger über die Saarbrücker wohl wieder so einen Gletscherbalanceakt wie am Gliederferner im Abstieg hätte (wenn auch nur kurz), das Wetter nicht so stabil wie vorhergesagt scheint und es 4. sinnvoll wäre, heute einen Ort mit Telefon-/Datenempfang zu erreichen.
Interessant finde ich auch die Geschichte mit ihrem 16-jährigen Sohn, den ich auf einer Alm nach der Lindauer Hütte lieb grüßen soll: Vor einem Jahr (da war der Knirps also gerade mal 15) lief ein Schulprojekt, wo die Eltern den Kids 60 Euro mitgegeben haben und diese damit EINE Woche mindestens 100 Kilometer von zu Hause entfernt überleben sollten. Alles weitere mußten sie sich im Vorfeld selbst organisieren oder dann vor Ort - wo auch immer.
Die Jugendlichen hatten also große Rucksäcke mit Zelt, Essen & Co gepackt, sich an viele Firmen und Institutionen gewandt und letztlich mit von der Bahn gesponserten Bahncards auf den Weg in die Berge gemacht. Auf der Lindauer Hütte durften sie wohl am ersten Tag gegen Mitarbeit Zelten und erhielten etwas zu Essen, allerdings mußten sie realisieren, daß 20 Kilogramm auf dem Buckel einfach viel zu viel sind. Das kann ich gut verstehen: Vor 3 Jahren war ich ja mit entsprechendem Gewicht in knapp 4 Monaten ein Mal über die Alpen unterwegs gewesen, aber ich bringe auch deutlich mehr Kampfgewicht, Lebenserfahrung und mentale Ausdauer im Verhältnis zum Rucksackgewicht auf die Waage als ein paar Teenager. Der Hüttenwirt der Lindauer Hütte hatte für die Jungs schließlich den entscheidenden Tipp: Sie sollten es doch mal beim Senner auf einer nahegelegenen Alm probieren. Und wirklich durften sie dort gegen Almarbeit und für Kost und Logis bleiben.
Jikar (ich bin mir mit dem Namen nicht ganz sicher) hat es so gut gefallen, daß er diesen Sommer gleich wieder in den Ferien zum Helfen auf diese Alm wollte und da er scheinbar ordentlich zupacken kann, hat ihn der Senner auch in diesem Sommer wieder gerne als Helfer genommen. Nur mit dem Namen ... der Senner der Sporaalpe hat ihn der Einfachkeit halber schlicht "Klaus" getauft. Nun, Pragmatismus ist auf der Alm sicher nicht das Schlechteste und so lange der Junge auch darauf hört ...

Nach gut 4 Stunden erreiche ich zur Mittagszeit die riesige Jamtalhütte. Draußen ist es mir zu schattig, also gehe ich in den Restaurant-artigen "Gastraum". Da ich noch einen weiteren ordentlichen Marsch vor mir habe, will ich eigentlich nicht viel Zeit verlieren und mich nur etwas Stärken.
Das ist in dieser riesigen, unpersönlichen und augenscheinlich suboptimal organisierten Hütte allerdings gar nicht so einfach (wie ich am nächsten Tag auf der Tübinger Hütte erfahren werde, genießt die Jamtal auch einen schlechten Ruf - trotz oder vielleicht sogar wegen ihres Statuses als großer DAV-Ausbildungsstützpunkt): Drinnen ist unklar, ob mit Bedienung oder Selbstbedienung (typische Kennzeichen wie Schilder oder Speisekarten an den Tischen fehlen) - als ich mich an einen Tisch setze, passiert ... NIX. Als ich zur Theke gehe, werde ich entnervt nach draußen geschickt, als ich draußen an der dortigen Theke rumstehe, kommt der vermeintliche Chef und beordert mich wieder rein an den Tisch. Bis dahin konnte ich meine Wünsche immer noch nicht los werden.
Etwas später kommt er zur Aufnahme der Bestellung vorbei, weiß aber nicht mal, was die heutige Tagessuppe ist.
Das Zahlen gestaltet sich dann auch als mehrstufiger und langwieriger Prozess.

Fazit:
1. Manchmal ist der erste Eindruck schon der sich bestätigende und letztlich bleibende.
2. Es gibt auch große Hütten, die trotzdem einen guten Eindruck machen.
Die Jamtalhütte gehört definitiv NICHT dazu.
3. Man hat es hier wohl einfach nicht nötig.
4. Nix wie weg und mit der Übernachtung auf der Heidelberger am Vortag (wieder Mal) alles richtig gemacht.

Nach der Jamtalhütte gilt es zuerst das Tal des Jambachs zu durchschreiten und dann geht es in den zweiten langen Aufstieg für heute, der allerdings deutlich steiler und auch unangenehmer zu gehen ist, da einige Hundert Höhenmeter über Erosionsgelände mit abrutschendem Geröll und Erde zu überwinden sind. Mir kommen einige Kleingruppen entgegen und ich frage immer mal nach den Verhältnissen auf der anderen Seite des Übergangs. Die Auskunft der beiden älteren Damen, die ich als letztes treffe, KANN ich aber einfach nicht glauben: Schwieriger als die Ostseite und ich könnte Probleme mit meinem großen Rucksack bekommen, es muß also sehr eng sein.
Mmmh, einen Sonnenstich können die beiden eigentlich nicht haben, Bewußtseins-verändernde Gräser geraucht zu haben, traue ich ihnen auch nicht zu, also entweder haben sie zu viel Gipfelschnaps konsumiert (so laufen sie aber eigentlich nicht) oder sie sind mental nachhaltig verstört.


Ich bin mir nicht sicher, aber der Abstieg von der Getschnerscharte auf der Nordseite ist absolut harmlos im Vergleich zum Aufstieg und auch Engstellen kann ich nirgends entdecken.


Um 44 Minuten vor 4 Uhr beginnt es plötzlich, wie aus heiterem Himmel (ok, bedeckt ist es bereits seit dem Vormittag, aber trocken) große Flocken zu schneien. Nachdem ich Anorak und Regenhose angezogen und Foto weggepackt habe, kann ich in Ruhe weitergehen, aber bereits nach 4 weiteren Minuten hat der Spuk wieder ein Ende.

Unangenehm in einer tiefen Rinne mit rollenden bzw. kippelnden Gesteinsbrocken sind nur die Serpentinen hinab zum Bietalbach zu gehen. Der Bach ist dann unterhalb einer Kraftswerksableitung zu durchqueren, wo das Bachbett fast komplett trocken liegt. Gleichzeitig warnen an der Stelle aber auch Schilder davor, den Bach zu betreten, da Flut durch Öffnen von Schleusen/Wehr droht. Skurril !
Aber einen Tod muß man sterben und letztlich bleibe ich trocken.


Ziemlich genau 4.000 Kilometer bin ich nun in den letzten weniger als 4.000 Tagen auf 4 Weit-/Fern-Wanderwegen (München-Venedig, Tour du Montblanc TMB, Graz-Monaco, Zentralalpenweg 02) durch die Alpen spaziert. 4 Hektotausend Aufstiegsmeter waren dabei bis heute zu überwinden und nahezu genauso viele Höhenmeter abzusteigen (ohne Gerald am verflixten Tag 13 eigentlich sogar ein paar Meter mehr, weil es von München bzw. Graz ans Meer ja tendentiell abwärts geht).
Ich stand in dieser Zeit auf deutlich über 4.000 Metern über dem Meer (allerdings außeralpin) und habe dabei eine Nacht auf 4.600 Metern verbracht.


Am Silvretta-Stausee überschreite ich dann kurzzeitig bereits die Grenze nach Vorarlberg, dem letzten Österreichischen Bundesland durch welches mich meine Reise führt, nachdem ich zuletzt ja schon durch 4 (Steiermark, Kärnten, Tirol, Salzburger Land) mit hochalpinen Lagen über 2.500 Metern und der Hälfte mit eher Flachland (Niederösterreich, Burgenland) gekommen bin und einer weiteren Hälfte der Hälfte, also einem Viertel oder 4^(-1) vor Beginn einen Besuch abgestattet habe (Wien), wo mich die Dame mit den 4 Buchstaben aus der Stadt mit den 4 Buchstaben auch Mitte September wieder hinlocken wird, bevor ich mich im 4. Quartal evtl. revanchieren werde (Update: mit der Revanche im 4. Quartal 2017 wurde zwar nichts, aber evtl. klappt es ja 4 Quartale nach dem Gedanken 2018) ...

Leider ist direkt am Paß im Hotel Piz Buin kein Zimmer mehr frei, so daß ich mit dem Bus ins Tal fahren muß (schräg: 3,60 Euro für das Busticket und 4 Euro Maut). Ich entscheide mich für die Abfahrt zurück nach Osten, also hinab nach Tirol, wo Galtür liegt. Da Handy- bzw. Datenempfang mal wieder rumzickt, erteile ich dem Vater zu Hause den Auftrag, mir Unterkunft mit gewissen Vorgaben in Galtür zu organisieren, während ich im Bus ins Tal fahre. Es ist nämlich mittlerweile schon relativ spät geworden. Der Wunsch kann mir heute natürlich nicht abgeschlagen werden.

Die Unterkunft im Hotel garni Luggi ist spitzenmäßig (großes (Doppel-)Zimmer, aufmerksame Chefin, extrem sauber und gepflegt, bester Wellnessbereich der bisherigen Reise durch Österreich) und relativ preisgünstig. Von Einzelzimmer- oder Kurzurlauber-Zuschlägen hält man hier auch nichts. Das ist der Vorteil an Biker-Unterkünften (also die MIT richtigem Motor). Wie beim Lammwirt in Jerzens ist der Chef hier Motorradfahrer und bietet neben Reparatur- und Unterstellmöglichkeiten auch selbst Touren für seine Gäste an.

Der Wellness-Bereich ist der beste der ganzen bisherigen Reise, bis ins kleinste durchdacht (optimale Raumaufteilung, ausgewogene Ruhemöglichkeiten, Fußbodenheizung, Sirup, Wasserfalldusche u.a. als Knopfdruck-Aktionen (fast wie im Miniatur-Wunderland ;-), extrem sauber und neu ausschauend) und die Chefin heizt für mich extra die Finnische Sauna an.
Überhaupt ist die Dame sehr aufmerksam, gastfreundlich und zuvor kommend: Prophylaktisch werde ich nach früherem Frühstück gefragt, weil ich nach Bergsteiger aussehe (morgen wegen kurzer Etappe aber nicht nötig), alkoholischen Umtrunk muß ich leider ablehnen und auch auf das Angebot, mir doch noch Proviant mitzunehmen, lehne ich dankend ab (unterwegs habe ich gerade keinen so großen Bedarf bei kurzen Etappen).
Den Wellness-Bereich hätte ich auf ca. 4 Jahre alt geschätzt, in Wirklichkeit ist er fast 20 Jahre alt, aber eben top gepflegt und ab und an neu gestrichen, wie ich vom "Hausmeister" (dem Chef) erfahre.

Da hatte Vater wirklich ein gutes Händchen !


Begegnungen:
1 Adler
1 Schwäbische Alleinweitwanderin
Katja und Hans aus Würzburg (Sohn Jikar oder so ähnlich, vom Senner Klaus genannt)
Helene, die nette Chefin im und Frau vom Luggi


2.000er:
Falsches Kronenjoch, 2.958
Kronenjoch, 2.974
Getschnerscharte, 2.839
Bielerhöhe, 2.030

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen